Zeitgeist ade
Der Zeitgeist? Eine längst verwelkte Blume. Ein ausgeleiertes Gummiband, das nicht mehr hält. Ein Modewort, verstaubt und beliebig. Es ist höchste Zeit, Abschied zu nehmen.

Erinnern Sie sich noch an eine Zeit, in der „Zeitgeist“ wirklich etwas bedeutete? Als man damit ganze Generationen beschrieb, gesellschaftliche Strömungen einfasste und intellektuell glänzen konnte? Heute wirkt das Wort so angestaubt wie eine 80er-Jahre-Bürogarnitur aus Pressspan. Und doch klammern sich viele daran - wie an ein abgetragenes Lieblingshemd, das längst in die Altkleidersammlung gehört.
Was ist passiert? Ganz einfach: Der Zeitgeist ist zerfasert, zersplittert, atomisiert. In einer Welt, in der Trends schneller vergehen als ein TikTok-Hype, ist der eine, allumfassende Zeitgeist nicht mehr als ein Relikt vergangener Zeiten - eine nostalgische Reminiszenz an eine Ära, in der wir noch glaubten, eine gemeinsame kulturelle Erzählung zu haben.
Zeitgeist: Ein Wort wird zu Tode geritten
Der Begriff „Zeitgeist“ war einmal das Schweizer Taschenmesser der intellektuellen Analyse. Heute gleicht er eher einem stumpfen Buttermesser, das vergeblich versucht, die harte Kruste der modernen Wirklichkeit zu durchschneiden.
Der Begriff ist in den letzten Jahrzehnten so oft und so ungenau verwendet worden, dass er seine Schärfe verloren hat. Werbung, Politik, Marketing - überall wurde er als Feigenblatt für alles Mögliche missbraucht. „Unsere Marke verkörpert den Zeitgeist!“ - Was genau bedeutet das? Meist nichts. Es ist das verbale Äquivalent zu „jung, dynamisch, innovativ“ - also absolut nichtssagend.
Ein Paradebeispiel für eine Marke, die genau diesem Trugschluss aufgesessen ist, ist Benetton. In den 80ern und 90ern war die Marke mit ihren mutigen, gesellschaftskritischen Werbekampagnen extrem erfolgreich. Doch später versuchte Benetton, sich ständig neuen Trends anzupassen, verlor dabei aber seine kontroverse, rebellische Identität. Das Ergebnis? Die Marke verschwand nahezu in der Bedeutungslosigkeit, weil sie sich nicht mehr klar positionieren konnte.
Dasselbe Schicksal ereilte auch Abercrombie & Fitch. Die Marke war in den 2000ern das Sinnbild jugendlicher Coolness – mit dunklen Stores, lauter Musik und exklusiven Schönheitsidealen. Doch als sich die Modewelt veränderte und Diversität in den Fokus rückte, versuchte Abercrombie hektisch, sich neu zu erfinden. Die Strategie? Einfach alles aufgeben, was die Marke einst ausmachte. Heute ist Abercrombie nur noch ein Schatten seiner selbst – eine austauschbare Modekette ohne klare Identität.
Die große Fragmentierung: Das Ende der Einheitskultur
Früher war alles einfacher. Oder zumindest übersichtlicher. Die 50er Jahre? Rock'n'Roll und Petticoats. Die 80er? Neonfarben und Schulterpolster. Und heute? Willkommen in der kulturellen Suppe, in der alles gleichzeitig existiert. Während die einen nostalgisch den 90er-Grunge zelebrieren, reiten die nächsten auf der Y2K-Ästhetik (Mode der frühen Nullerjahre), während wieder andere sich nur noch in virtuellen Welten bewegen und Kleidung aus der physischen Realität für überbewertet halten.
An die Stelle des klassischen Zeitgeistes, der als klar definierter Strom durch die Gesellschaft floss, ist ein chaotisches Geflecht von Mikrotrends getreten. Es gibt nicht mehr "den" Zeitgeist, sondern tausend kleine, konkurrierende Strömungen. Wie kann man sich da noch anpassen? Marken, die versuchen, „den Zeitgeist“ zu treffen, wirken oft wie ein Boomer auf Instagram: bemüht, aber peinlich.
Ein Unternehmen, das diese Fragmentierung perfekt verstanden hat, ist Netflix. Statt auf einen einheitlichen Zeitgeist setzt die Plattform auf Algorithmen und individuelle Interessen. Während die klassischen Fernsehsender noch nach „dem“ Massengeschmack suchten, hat Netflix längst erkannt, dass es diesen nicht mehr gibt.
Der Zeitgeist als Marketing-Zombie
Apropos peinlich: Nirgendwo wird der Zeitgeist-Begriff so skrupellos ausgeschlachtet wie in der Werbebranche. „Unsere Produkte treffen den Nerv der Zeit!“ - Wirklich? Der Puls der Zeit ist ein nervöses Flackern zwischen Dopaminschüben und Aufmerksamkeitsdefizit.
Marken, die versuchen, den vermeintlichen Zeitgeist zu treffen, jagen meist einer Karotte hinterher, die längst verfault ist. Trends, die heute noch frisch wirken, sind morgen schon kalter Kaffee. Wer glaubt, mit einer Instagram-Ästhetik von 2020 noch cool zu sein, hat die Dynamik des digitalen Zeitalters nicht verstanden.
Ein Paradebeispiel dafür ist Clubhouse. Die Audio-App war DER Hype während der Pandemie, Millionen User strömten auf die Plattform - doch als der Trend abflaute, wurde klar, dass Clubhouse außer Hype wenig zu bieten hatte. Ohne langfristige Strategie oder Alleinstellungsmerkmal verpuffte die Plattform, während andere Social-Media-Giganten die Audio-Features einfach in ihre bestehenden Netzwerke integrierten.
Genauso scheiterte Gap daran, sich ständig neu erfinden zu wollen. In den 90ern war Gap das Synonym für amerikanische Casualwear. Doch statt sich auf seine Wurzeln zu besinnen, versuchte das Unternehmen, jeden erdenklichen Modetrend zu adaptieren – und verlor dabei jegliche Wiedererkennbarkeit. Heute kämpft Gap darum, überhaupt noch relevant zu bleiben.
Marken, die Trends meistern, ohne sich selbst zu verlieren
Ja, es gibt sie: Marken, die es meisterhaft verstehen, Trends aufzugreifen, ohne ihre eigene Identität zu opfern. Coca-Cola ist ein perfektes Beispiel: Egal, ob Vintage-Ästhetik, nachhaltige Verpackung oder digitale Werbekampagnen – die Marke bleibt sich immer treu und strahlt beständige Lebensfreude aus.
Nike wiederum gelingt es, gesellschaftliche Strömungen aufzugreifen, ohne die eigene DNA zu verwässern. Kampagnen wie jene mit Colin Kaepernick oder der Fokus auf Diversität zeigen, dass sich Nike an der Gesellschaft orientiert – aber nie seine sportliche Basis aufgibt.
Apple nimmt Innovationen auf, ohne das ikonische Design oder die Nutzererfahrung zu opfern. Und Lego hat sich vom simplen Spielzeughersteller zum digitalen Powerhouse entwickelt, ohne das kreative Bauen als Markenkern aufzugeben.
Authentizität statt verzweifeltes Hinterherhecheln
Statt blind dem Zeitgeist zu folgen, sollten sich Marken auf das besinnen, was wirklich zählt: Charakter, Haltung, eine eigene Stimme. Was eine erfolgreiche Marke von einer Marke unterscheidet, die sich krampfhaft an den Zeitgeist klammert? Die einen setzen Trends, die anderen laufen ihnen hinterher - und wirken dabei so hip wie ein Lehrer, der versucht, Jugendsprache zu benutzen.
Marken wie Patagonia zeigen, wie es geht. Statt sich jedem kurzfristigen Nachhaltigkeits-Hype zu unterwerfen, blieb das Unternehmen konsequent seiner Linie treu – und wurde gerade dadurch zur Ikone.
Die Zukunft gehört denen, die sich trauen, anders zu sein, statt sich an den Mainstream anzupassen. Wer sich in der heutigen Welt behaupten will, muss keine Welle reiten – er muss sie selbst erzeugen.
Die große Chance: Ein zeitloses Markenimage
Doch das Ende des Zeitgeists ist nicht nur eine Herausforderung – es ist eine gigantische Chance. Wer sich nicht mehr alle paar Jahre einem neuen Trend unterwerfen muss, kann etwas erschaffen, das Bestand hat: eine Marke mit Substanz, mit Beständigkeit, mit einer unverwechselbaren Identität.
Statt sich an flüchtigen Trends zu orientieren, können Unternehmen Werte und Visionen entwickeln, die über Jahrzehnte hinweg Relevanz behalten. Luxusmarken wie Hermès oder Rolex setzen seit Jahrzehnten auf ein unverwechselbares Image, das sich nicht an kurzlebigen Moden orientiert – und gerade deshalb unantastbar ist.
Marken, die sich auf ihre Wurzeln besinnen und eine klare, authentische Identität entwickeln, müssen nicht mehr hektisch jedem neuen Impuls hinterherlaufen. Stattdessen können sie sich darauf konzentrieren, ein tief verwurzeltes Vertrauensverhältnis zu ihren Kunden aufzubauen – ein Kapital, das weit wertvoller ist als jeder kurzlebige Trend.
Zeitgeist ade – und das ist gut so!
Der Zeitgeist ist tot, und wir sollten ihm keine Träne nachweinen. Wer sich heute noch darauf beruft, klebt an einem Konzept fest, das längst von der Realität überholt wurde. Die Welt ist zu komplex, zu schnelllebig, zu divers, um sich mit einem einzigen Begriff einfangen zu lassen.
Also: Statt nach dem Zeitgeist zu schielen, sollten Marken, Designer und Kreative lieber auf das setzen, was wirklich zählt – Persönlichkeit, Substanz und Mut zur eigenen Identität. Denn eines ist sicher: Wer heute noch „den Zeitgeist“ sucht, wird ihn nicht mehr finden. Und das ist vielleicht das Beste, was passieren kann.