Wie Rot uns im Gedächtnis klebt
Über überraschende Erkenntnisse der Farbpsychologie und ihre verblüffenden Konsequenzen für all jene, die glauben, die Macht der Farben zu verstehen.

Es gibt Wahrheiten, die so selbstverständlich erscheinen, dass sie nie hinterfragt werden. Rot erregt Aufmerksamkeit. Punkt. Jeder Markendesigner würde dem zustimmen, jeder Werbetreibende würde zustimmend nicken, und selbst der gemeine Verkehrsschildmacher scheint davon überzeugt zu sein. Rot schreit praktisch: „Hier bin ich! Schau mich an! Vergiss mich nie!“
Die logische Schlussfolgerung lautet also: Wenn wir einen hohen Erinnerungsgrad wollen, müssen wir die Dinge in die Farbe Rot tauchen. Denn durch hohe Aufmerksamkeit bleibt das Objekt oder das Wort besser in Erinnerung.
Vereinfacht gesagt: Möchte ich in Erinnerung bleiben, muss ich nur einen roten Pulli anziehen. Oder?
Doch was, wenn Aufmerksamkeit nicht automatisch zu besserer Erinnerung führt? Was, wenn der rote Pulli mir nur Aufmerksamkeit in diesem Moment verschafft? Wird anschließend gefragt, welche Farbe mein Pulli hatte, wird man sagen: „Der war rot.“ Aber nicht: „Das war die Person im roten Pulli.“ Man erinnert sich an die Farbe – aber nicht besser an die Person dahinter. Nicht besser als an die Person im grünen Pulli.
Genau diese Frage trieb ein Team von Psychologen der Universität Regensburg um. Konkret wollten sie wissen: Werden Objekte und ihre Farben als untrennbare Einheit im Gedächtnis gespeichert? Sorgt eine rote Farbe dafür, dass wir uns nicht nur an die Farbe erinnern, sondern auch an das Objekt selbst? Oder läuft das getrennt ab?
Denn obwohl es unzählige Studien zu Farben und Aufmerksamkeit gab, hatte merkwürdigerweise noch niemand diese Objektbindung von Farben systematisch untersucht. Bislang war man einfach davon ausgegangen, dass sich ein rotes Logo besser einprägt als ein blaues. Die Forscher wollten diese Grundannahme endlich beweisen – oder widerlegen. Dabei förderten sie Erkenntnisse zutage, die manchen Markendesigner zum Umdenken bringen könnten.
Die große Ernüchterung: Rot macht nicht unvergesslich
Die Forscher um Prof. Dr. Christof Kuhbandner untersuchten die Objektbindung von Farben anhand der Grundfarben Rot, Gelb, Blau und Grün. Sie gingen von der Annahme aus, dass erhöhte Aufmerksamkeit automatisch zu höherer Merkfähigkeit führt – zu einer stärkeren Verankerung im Gedächtnis.
Das Experiment: Probanden sahen Objekte in vier verschiedenen Farben. Dann kam die Gretchenfrage: Woran erinnern Sie sich?
Das Ergebnis war ein Schlag ins Gesicht für alle Rot-Enthusiasten. Die Studie widerlegt die Annahme. Die Farbe hatte keinen messbaren Einfluss darauf, ob sich die Teilnehmer überhaupt an das Objekt erinnerten.
Mit anderen Worten: Ob ein Logo rot oder grün war, machte keinen Unterschied für die Wahrscheinlichkeit, sich später daran zu erinnern, dass es da war. Zurück zum Pullover-Beispiel: Die Person im roten Pulli wird nicht besser erinnert als die Person im grünen Pulli. Die erhoffte stärkere Bindung zwischen roter Farbe und Objekt blieb aus.
Ein rotes Logo bleibt also nicht automatisch besser im Gedächtnis hängen als ein grünes. Diese Erkenntnis dürfte so manchen Markenverantwortlichen die Schweißperlen auf die Stirn treiben lassen. Schließlich haben Unternehmen Millionen ausgegeben, um ihre Markenfarbe zu finden, zu schützen und zu kommunizieren – alles in der Annahme, dass Rot der sichere Weg zu Unvergesslichkeit sei.
Der Plot Twist: Rot klebt anders
Aber halt – bevor wir das rote Tuch begraben, kommt die eigentliche Pointe der Studie: Zwar blieben rote Objekte nicht besser im Gedächtnis, dafür aber ihre Farbe. Die Probanden konnten sich deutlich besser daran erinnern, dass ein Gegenstand rot war, als dass er beispielsweise grün gewesen war.
Es ist, als würde unser Gehirn Objekte und ihre Farben getrennt voneinander abspeichern – und dabei manchen Farben einen VIP-Status verleihen. Rot und Gelb werden bevorzugt behandelt, während Grün das Aschenputtel unter den Farben ist.
Aber Achtung: Das funktioniert nur einseitig! Sie erinnern sich besser daran, dass etwas rot war – aber wenn Sie an die Farbe Rot denken, erscheint nicht automatisch das dazugehörige Objekt vor Ihrem geistigen Auge. Die Bindung ist schwächer als gedacht.
Besonders perfide: Bei grünen Objekten waren sich die Probanden nicht nur schlechter daran erinnernd, dass sie grün waren – sie waren auch noch selbstbewusst falsch. Ein doppelter Blackout also.
Evolution im Einkaufszentrum
Die Wissenschaftler haben dafür eine charmante evolutionäre Erklärung parat: Rot und Gelb sind Signalfarben. Sie haben uns über Jahrtausende vor Gefahren gewarnt (giftige Tiere, verdorbenes Fleisch) oder zu Genüssen gelockt (reife Früchte, fruchtbare Partner). Grün hingegen? Grün ist überall. Grün ist der Hintergrund, vor dem sich das Wichtige abspielt. Grün ist die Tapete der Natur – und wer erinnert sich schon an Tapetenmuster?
Diese evolutionäre Programmierung wirkt auch heute noch, wenn wir durch die Fußgängerzone flanieren oder online shoppen. Unser Gehirn behandelt Farben immer noch so, als müsste es täglich ums Überleben kämpfen – nur dass die größte Bedrohung heutzutage ein überfüllter Warenkorb ist.
Die Ironie des Grüns
Besonders bitter ist die Erkenntnis für alle, die auf Grün als Markenfarbe setzen. Grün steht für Nachhaltigkeit, Natur, Vertrauen – alles sehr edle Werte. Aber ausgerechnet diese Farbe wird vom Gehirn systematisch übersehen und vergessen.
Die Forscher formulieren es mit trockenem Humor: „Wenn man ein schlauer Gangster wäre, sollte man eher ein grünes als ein rotes oder gelbes Auto fahren." Möchte man sich unauffällig davonstehlen, empfiehlt die Studie sich in Grün zu kleiden – um weniger erinnert zu werden.
Vielleicht sollten wir diesen Rat auch für Marken überdenken. Will man wirklich, dass die Markenfarbe so unauffällig ist, dass sie für kriminelle Zwecke empfohlen wird?
Der Rot-Mythos: Coca-Cola vs. Pepsi
Und dann wäre da noch die große Frage, die sich aufdrängt: Warum funktioniert Coca-Cola mit seinem ikonischen Rot so perfekt, während Pepsi mit Blau ebenfalls eine starke Marke ist? Nach der Studie dürfte Rot doch keinen automatischen Vorteil verschaffen.
Die Antwort ist entlarvend: Es verschafft auch keinen. Beide Marken funktionieren nicht wegen ihrer Farbe, sondern trotz oder mit ihr. Coca-Cola ist nicht deshalb im Gedächtnis verankert, weil Rot eine „bessere" Gedächtnisfarbe ist. Die Marke ist stark, weil sie seit über 130 Jahren konsequent dieselbe Farbe verwendet, weil sie überall präsent ist, weil sie eine Geschichte erzählt.
Pepsi beweist das Gegenteil: Blau – eine Farbe, die laut Studie im Mittelfeld liegt – funktioniert genauso gut, wenn die Marke stark genug ist. Die Farbe ist nicht der Grund für den Erfolg, sondern Teil einer größeren Strategie.
Das Geheimnis von Magenta
Hier lohnt sich ein Blick auf ein weiteres Phänomen: Sehen Sie die Farbe Magenta, denken Sie sofort an die Telekom. Diese Verbindung funktioniert perfekt – aber nicht aus den Gründen, die man vermuten könnte.
Nach der Regensburger Studie dürfte Magenta keine besonders „gedächtnisstarke“ Farbe sein. Sie ist weder evolutionär relevant wie Rot, noch besonders auffällig wie Gelb. Trotzdem ist die Assoziation Magenta = Telekom unerschütterlich. Warum?
Die Antwort liegt nicht in der Biologie, sondern in der Strategie: Telekom war die erste große Marke mit Magenta. Jahrelange konsequente Verwendung. Omnipräsenz in Läden, Werbung und auf Rechnungen. Und vor allem: keine Konkurrenz um diese Farbe.
Das Magenta-Beispiel zeigt, wie Markenfarben wirklich funktionieren. Sie werden nicht durch angeborene Gedächtnisvorteile stark, sondern durch Wiederholung, Konsistenz und – ganz entscheidend – Exklusivität. Die Verbindung entsteht im Kopf, nicht in den Genen.

Jenseits der Farbblindheit: Was wirklich zählt
Die Studie zeigt aber auch die Grenzen der Farbfixierung auf. Wenn Rot nicht automatisch für bessere Objekterinnerung sorgt, müssen andere Faktoren wichtiger sein: Form, Kontext, Bedeutung, Einzigartigkeit. Vielleicht ist die obsessive Beschäftigung mit der perfekten Markenfarbe ja ohnehin ein Luxusproblem der Überflussgesellschaft.
Ein Logo wird nicht dadurch unvergesslich, dass es rot ist, sondern dadurch, dass es unverwechselbar ist. Die goldenen Bögen von McDonald's funktionieren nicht wegen der Farbe, sondern wegen der Form. Der Swoosh von Nike ist nicht deshalb ikonisch, weil es schwarz ist (oder weiß, je nach Hintergrund), sondern weil es eine Geschichte erzählt.



Die neue Bescheidenheit
Was lehrt uns das für die Praxis? Zunächst einmal: Bescheidenheit. Farbe ist ein Werkzeug, nicht die Antwort auf alle Markenprobleme. Sie kann Aufmerksamkeit erzeugen, Emotionen wecken und Wiedererkennung fördern – aber sie macht noch lange keine starke Marke.
Die wirklich spannende Frage ist nicht, ob Rot besser ist als Grün, sondern wie Farbe, Form und Bedeutung zusammenspielen. Wie schafft man es, dass Menschen sich nicht nur an die Farbe erinnern, sondern an die gesamte Marke? Wie baut man eine Identität auf, die mehr ist als die Summe ihrer farbigen Teile?
Die Stärke der Schwäche
Vielleicht liegt in der „Schwäche" des Grüns sogar eine Stärke verborgen. Wenn eine Farbe weniger aufdringlich ist, muss der Rest umso überzeugender sein. Grüne Marken können nicht auf die evolutionäre Programmierung ihrer Kunden setzen – sie müssen durch Substanz überzeugen.
Das ist anstrengender, aber möglicherweise auch nachhaltiger. Denn was passiert, wenn alle Marken auf Rot setzen? Dann wird aus dem Aufmerksamkeitsmagneten schnell weißes Rauschen. Dann ist das Rote nicht mehr rot, sondern nur noch laut.
Die Farbe der Zukunft ist komplex
Die Regensburger Studie macht eines deutlich: Unser Gehirn ist komplexer, als wir dachten – und einfacher, als wir gehofft hatten. Es behandelt Farben nach uralten Mustern, aber diese Muster greifen nicht immer so, wie wir es erwarten würden.
Die wichtigste Erkenntnis: Rot und Gelb sorgen weiterhin für Aufmerksamkeit – im Straßenbild, im Supermarkt, im Dschungel. Jedoch verbindet sich eine Farbe nicht automatisch mit einem Objekt oder einem Wort. Die Studie widerlegt die einfache Annahme „Rot wirkt besser, weil es Aufmerksamkeit bindet und deshalb auch besser erinnert wird“.
Es braucht mehr als die richtige Farbe, es braucht die richtige Geschichte.
Für Markendesigner bedeutet das: Weniger Dogmatismus, mehr Neugier. Weniger Vertrauen auf vermeintliche Gewissheiten, mehr Experimentierfreude. Und vielleicht auch ein bisschen mehr Respekt vor der Komplexität menschlicher Wahrnehmung.
Am Ende ist es wie so oft im Leben: Die Wahrheit ist nuancierter, als es die Schlagzeilen vermuten lassen. Rot erregt tatsächlich Aufmerksamkeit – aber Aufmerksamkeit allein macht noch keine unvergessliche Marke. Dafür braucht es mehr als nur die richtige Farbe. Es braucht die richtige Geschichte.