Skip to main navigation Skip to main content Skip to page footer

Rot ist automatisch besser

| 8 Min | Gestaltung

Über überraschende Erkenntnisse der Farbpsychologie und ihre verblüffenden Konsequenzen für all jene, die glauben, die Macht der Farben zu verstehen.

Es gibt Wahrheiten, die so selbstverständlich erscheinen, dass sie nie hinterfragt werden. Rot erregt Aufmerksamkeit. Punkt. Jeder Markendesigner würde dem zustimmen, jeder Werbetreibende nickt wissend, und selbst der Verkehrsschildmacher scheint davon überzeugt. Rot schreit: „Hier bin ich! Schau mich an! Vergiss mich nie!"

Die logische Schlussfolgerung: Wenn wir einen hohen Erinnerungsgrad wollen, tauchen wir die Dinge in Rot. Denn was Aufmerksamkeit erregt, bleibt im Gedächtnis.

Oder anders gesagt: Möchte ich in Erinnerung bleiben, ziehe ich einfach einen roten Pulli an. Richtig?

Die Frage, die niemand stellte

Doch was, wenn Aufmerksamkeit nicht automatisch zu besserer Erinnerung führt? Was, wenn der rote Pulli mir nur Aufmerksamkeit in diesem Moment verschafft? Wird später gefragt, welche Farbe mein Pulli hatte, sagt man: „Der war rot.“ Aber nicht: „Das war die Person im roten Pulli.“ Man erinnert sich an die Farbe – aber nicht besser an die Person dahinter.

Genau diese Frage trieb ein Team von Psychologen der Universität Regensburg um ⇑. Werden Objekte und ihre Farben als untrennbare Einheit im Gedächtnis gespeichert? Sorgt Rot dafür, dass wir uns nicht nur an die Farbe erinnern, sondern auch an das Objekt selbst? Oder läuft das getrennt ab?

Denn obwohl es unzählige Studien zu Farben und Aufmerksamkeit gab, hatte merkwürdigerweise noch niemand diese Objektbindung systematisch untersucht. Man ging einfach davon aus, dass sich ein rotes Logo besser einprägt als ein blaues. Die Forscher wollten diese Grundannahme endlich beweisen – oder widerlegen.

Die große Ernüchterung

Die Forscher um Prof. Dr. Christof Kuhbandner untersuchten die Objektbindung der Grundfarben Rot, Gelb, Blau und Grün. Das Experiment war simpel: Probanden sahen Objekte in verschiedenen Farben. Dann kam die Gretchenfrage: Woran erinnern Sie sich?

Das Ergebnis war ein Schlag ins Gesicht für alle Rot-Enthusiasten. Die Farbe hatte keinen messbaren Einfluss darauf, ob sich die Teilnehmer überhaupt an das Objekt erinnerten.

Mit anderen Worten: Ob ein Logo rot oder grün war, machte keinen Unterschied für die Wahrscheinlichkeit, sich später daran zu erinnern, dass es da war. Die Person im roten Pulli wird nicht besser erinnert als die Person im grünen Pulli. Die erhoffte stärkere Bindung zwischen roter Farbe und Objekt blieb aus.

Ein rotes Logo bleibt also nicht automatisch besser im Gedächtnis hängen als ein grünes. Diese Erkenntnis dürfte so manchen Markenverantwortlichen die Schweißperlen auf die Stirn treiben. Schließlich haben Unternehmen Millionen ausgegeben, um ihre Markenfarbe zu finden, zu schützen und zu kommunizieren – alles in der Annahme, dass Rot der sichere Weg zu Unvergesslichkeit sei.

Der Plot Twist: Rot klebt anders

Aber bevor wir das rote Tuch begraben, kommt die eigentliche Pointe: Zwar blieben rote Objekte nicht besser im Gedächtnis, dafür aber ihre Farbe selbst. Die Probanden konnten sich deutlich besser daran erinnern, dass ein Gegenstand rot war, als dass er beispielsweise grün gewesen war.

Unser Gehirn speichert Objekte und ihre Farben getrennt voneinander ab – und verleiht dabei manchen Farben einen VIP-Status. Rot und Gelb werden bevorzugt behandelt, während Grün das Aschenputtel unter den Farben ist.

Aber Achtung: Das funktioniert nur einseitig. Sie erinnern sich besser daran, dass etwas rot war – aber wenn Sie an die Farbe Rot denken, erscheint nicht automatisch das dazugehörige Objekt vor Ihrem geistigen Auge. Die Bindung ist schwächer als gedacht.

Besonders perfide: Bei grünen Objekten waren sich die Probanden nicht nur unsicherer, dass sie grün waren – sie lagen auch häufiger daneben. Ein doppelter Blackout.

Evolution im Einkaufszentrum

Die Wissenschaftler haben dafür eine charmante evolutionäre Erklärung: Rot und Gelb sind Signalfarben. Sie haben uns über Jahrtausende vor Gefahren gewarnt – giftige Tiere, verdorbenes Fleisch – oder zu Genüssen gelockt: reife Früchte, fruchtbare Partner. Grün hingegen? Grün ist überall. Grün ist der Hintergrund, vor dem sich das Wichtige abspielt. Grün ist die Tapete der Natur – und wer erinnert sich schon an Tapetenmuster?

Diese evolutionäre Programmierung wirkt auch heute noch, wenn wir durch die Fußgängerzone flanieren oder online shoppen. Unser Gehirn behandelt Farben immer noch so, als müsste es täglich ums Überleben kämpfen – nur dass die größte Bedrohung heutzutage ein überfüllter Warenkorb mit hochverarbeiteten Lebensmittel ist.

Das Dilemma des Grüns

Besonders bitter ist die Erkenntnis für alle, die auf Grün als Markenfarbe setzen. Grün steht für Nachhaltigkeit, Natur, Vertrauen – alles sehr edle Werte. Aber ausgerechnet diese Farbe wird vom Gehirn systematisch übersehen und vergessen.

Die Forscher formulieren es mit trockenem Humor: „Wenn man ein schlauer Gangster wäre, sollte man eher ein grünes als ein rotes oder gelbes Auto fahren."

Für Marken bedeutet das: Grün erfordert mehr Arbeit. Die Farbe allein trägt nicht, die Marke muss durch andere Elemente überzeugen – durch Form, Geschichte, Konsistenz.

Warum Coca-Cola und Pepsi beide funktionieren

Und dann wäre da noch die Frage: Warum sind Coca-Cola mit Rot und Pepsi mit Blau beide so stark im Gedächtnis verankert? Die Studie zeigt doch, dass Rot keinen automatischen Objekterinnerungs-Vorteil bietet.

Die Antwort ist ernüchternd einfach: Beide Marken funktionieren nicht wegen ihrer Farbe, sondern wegen ihrer Geschichte. Coca-Cola etablierte Rot spätestens ab 1941 als festes Markenzeichen – über 80 Jahre konsequenter Einsatz. Pepsi setzte ab 1950 bewusst auf Rot-Weiß-Blau und entwickelte dieses patriotische Farbschema über Jahrzehnte weiter, um sich von der roten Konkurrenz abzuheben. Beide investierten Milliarden in ihre visuelle Identität. Beide sind omnipräsent.

Die Farbe war nie der Grund für den Erfolg – sie ist das Ergebnis von Beharrlichkeit. Coca-Cola hat Rot nicht gewählt, weil es besser funktioniert, sondern Rot funktioniert, weil Coca-Cola es gewählt hat. Ein feiner, aber entscheidender Unterschied.

Das erklärt auch, warum wir fälschlicherweise glauben, Rot sei der Schlüssel: Wir verwechseln Korrelation mit Kausalität. Erfolgreiche Marken sind oft rot – aber nicht weil sie rot sind.

Das Geheimnis von Magenta

Ein weiteres Beispiel: Sehen Sie Magenta, denken Sie sofort an die Telekom. Diese Verbindung funktioniert perfekt – und zeigt, worauf es wirklich ankommt.

Nach der Regensburger Studie dürfte Magenta keine evolutionär programmierte „Gedächtnisfarbe“ wie Rot oder Gelb sein. Trotzdem ist die Assoziation Magenta = Telekom unerschütterlich. Warum?

Weil Magenta drei entscheidende Eigenschaften vereint: Die Farbe ist auffällig genug, um nicht übersehen zu werden. Sie war unbesetzt – keine andere große Marke nutzte sie. Und die Telekom setzte sie konsequent ein: auf allen Geräten, in jedem Laden, auf jeder Rechnung, in jeder Werbung. Jahrzehntelang.

Das Magenta-Beispiel zeigt, wie Markenfarben wirklich funktionieren. Die Stärke kommt nicht aus biologischer Programmierung, sondern aus der Kombination von Auffälligkeit, Exklusivität und Beharrlichkeit. Die Verbindung entsteht im Kopf durch Wiederholung, nicht in den Genen durch Evolution.

Jenseits der Farbblindheit: Was wirklich zählt

Die Studie zeigt auch die Grenzen der Farbfixierung auf. Wenn Rot nicht automatisch für bessere Objekterinnerung sorgt, müssen andere Faktoren wichtiger sein: Form, Kontext, Bedeutung, Einzigartigkeit.

Ein Logo wird nicht dadurch unvergesslich, dass es rot ist, sondern dadurch, dass es unverwechselbar ist. Die goldenen Bögen von McDonald's funktionieren nicht wegen der Farbe, sondern wegen der Form. Der Swoosh von Nike ist nicht deshalb ikonisch, weil er schwarz ist (oder weiß, je nach Hintergrund), sondern weil er eine Geschichte erzählt – die Geschichte der Bewegung, des Sieges, der Geschwindigkeit.

Die Stärke des Symbols zeigt sich beim Test: Beide Logos funktionieren selbst in ungewohnten Farben. Das ist das Zeichen echter Markenstärke.

Die neue Bescheidenheit

Was lehrt uns das für die Praxis? Zunächst einmal: Bescheidenheit. Farbe ist ein Werkzeug, nicht die Antwort auf alle Markenprobleme. Sie kann Aufmerksamkeit erzeugen, Emotionen wecken und Wiedererkennung fördern – aber sie macht noch lange keine starke Marke.

Die wirklich spannende Frage ist nicht, ob Rot besser ist als Grün, sondern wie Farbe, Form und Bedeutung zusammenspielen. Wie schafft man es, dass Menschen sich nicht nur an die Farbe erinnern, sondern an die gesamte Marke? Wie baut man eine Identität auf, die mehr ist als die Summe ihrer farbigen Teile?

Die Stärke der Schwäche

Vielleicht liegt in der „Schwäche“ des Grüns sogar eine versteckte Stärke. Wenn eine Farbe weniger aufdringlich ist, muss der Rest umso überzeugender sein. Grüne Marken können nicht auf die evolutionäre Programmierung ihrer Kunden setzen – sie müssen durch Substanz überzeugen.

Das ist anstrengender, aber möglicherweise auch nachhaltiger. Denn was passiert, wenn alle Marken auf Rot setzen? Dann wird aus dem Aufmerksamkeitsmagneten schnell weißes Rauschen. Dann ist das Rote nicht mehr rot, sondern nur noch laut.

Es braucht mehr als die richtige Farbe. Es braucht die richtige Geschichte.

Die Farbe der Zukunft ist komplex

Die Regensburger Studie macht eines deutlich: Unser Gehirn ist komplexer, als wir dachten – und einfacher, als wir gehofft hatten. Es behandelt Farben nach uralten Mustern, aber diese Muster greifen nicht immer so, wie wir es erwarten würden.

Die wichtigste Erkenntnis: Rot und Gelb sorgen weiterhin für Aufmerksamkeit – im Straßenbild, im Supermarkt, im Dschungel der Marken. Jedoch verbindet sich eine Farbe nicht automatisch mit einem Objekt oder einem Wort. Die Studie widerlegt die einfache Annahme „Rot wirkt besser, weil es Aufmerksamkeit bindet und deshalb auch besser erinnert wird".

Für Markendesigner bedeutet das: Weniger Dogmatismus, mehr Neugier. Weniger Vertrauen auf vermeintliche Gewissheiten, mehr Experimentierfreude. Und vielleicht auch ein bisschen mehr Respekt vor der Komplexität menschlicher Wahrnehmung.

Am Ende ist es wie so oft im Leben: Die Wahrheit ist nuancierter, als es die Schlagzeilen vermuten lassen. Rot erregt tatsächlich Aufmerksamkeit – aber Aufmerksamkeit allein macht noch keine unvergessliche Marke. Dafür braucht es mehr als nur die richtige Farbe. Es braucht die richtige Geschichte.

Zurück