80 Prozent? Das reicht doch nicht!
Eine kritische Betrachtung des Pareto-Prinzips im digitalen Zeitalter.
© austin-distel-unsplash
Kürzlich verlangte mein Computer-Akku nach einem Service. Der Händler empfahl mir, den Akku künftig nur noch bis 80 Prozent zu laden, da dies die Lebensdauer erheblich verlängere. Diese Erfahrung brachte mich zum Nachdenken über ein Phänomen unserer Zeit: den Kult um die 80/20-Prozent-Lösung.
Überall begegnet uns diese Haltung. Wir erwirtschaften 80 Prozent unseres Umsatzes mit 20 Prozent unserer Kunden. Also fokussieren wir uns auf diese 20 Prozent. 20 Prozent der Produkte im Sortiment machen 80 Prozent des Umsatzes aus. Also 80 Prozent weglassen – das Prinzip der Discounter. Elektroautos laden schnell bis 80 Prozent, die letzten 20 Prozent dauern dagegen unverhältnismäßig lange. Dann lassen wir sie weg. Ich vergleiche es mit der morgendlichen U-Bahn: Der Waggon füllt sich zügig bis zu einem gewissen Punkt. Will man ihn jedoch bis auf den letzten Platz besetzen, braucht es enorme Kräfte von außen – ich denke dabei an die berühmten Subway-Pusher mit weißen Handschuhen in Tokio. Bei uns ist das unvorstellbar.
Nun zum Pareto-Prinzip: Nehmen wir an, wir bräuchten für das vollständige Laden einer Batterie 100 Prozent Aufwand, Zeit oder Energie. Dann verspricht uns das Pareto-Prinzip, dass wir bereits mit nur 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent der Ladung erreichen. Für die restlichen 20 Prozent wären hingegen 80 Prozent des Aufwands erforderlich. Also das Vierfache! Aber ist das wirklich klug?
Das Pareto-Prinzip besagt, dass 80% der Ergebnisse mit 20% des Gesamtaufwandes erreicht werden.
Effizienz oder Selbstbetrug?
Die 80/20-Regel hat durchaus ihre Berechtigung als strategisches Hilfsmittel. Doch ihre unreflektierte Anwendung führt zu problematischen Schlussfolgerungen. Die oft kolportierte Anwendung auf die Kriminalität illustriert das Dilemma: Angeblich sollen 20 Prozent der Täter für 80 Prozent der Verbrechen verantwortlich sein. Doch selbst wenn diese theoretische Verteilung stimmte und wir diese 20 Prozent erfassen könnten, wäre das Problem keineswegs zu 80 Prozent gelöst. Denn die verbleibenden 80 Prozent der Kriminellen könnten ihre Aktivitäten intensivieren und die entstandene „Lücke“ füllen.
Das eigentliche Problem liegt tiefer: Wer entscheidet, welche 20 Prozent weggelassen werden? Was passiert, wenn sich später herausstellt, dass genau diese fehlenden Prozente entscheidend waren?
Wenn 80 Prozent zum Standard werden
Die moderne Arbeitswelt hat das Pareto-Prinzip zur Rechtfertigung für Halbfertiges umfunktioniert. Besonders entlarvend ist, wie dies medial gefeiert wird: Der Berliner Tagesspiegel titelt euphorisch „80 Prozent sind wirklich gut genug!“ und präsentiert eine Freelancerin als fortschrittliches Vorbild, die heute „mehr in kürzerer Zeit“ schafft. Das Ausrufezeichen macht aus einer Notlösung eine frohe Botschaft, aus Oberflächlichkeit wird moderne Effizienz.
Hier zeigt sich die gefährliche Umkehrung unserer Zeit: Statt zu bedauern, dass wir bei 80 Prozent stoppen müssen, wird dies als neues Optimum verkauft. Qualitätsansprüche gelten als altmodisch, Vollständigkeit als ineffizient. Was als Effizienzsteigerung verkauft wird, entpuppt sich oft als systematische Qualitätssenkung – die kritiklos hingenommen und sogar bejubelt wird.
Microsoft unter Satya Nadella illustriert diese Entwicklung eindrucksvoll. Während früher unter Bill Gates Perfektion vor Veröffentlichung stand, werden heute bewusst 80-Prozent-Lösungen präsentiert. Die Folgen zeigten sich 2023 deutlich: Eine kritische Sicherheitslücke in Outlook ermöglichte es Angreifern, mit einfachen Mitteln auf Postfächer weltweit zuzugreifen. Auch die später angekündigte KI-Funktion "Recall", die kontinuierlich Screenshots erstellt, musste aufgrund massiver Datenschutzkritik erheblich überarbeitet und verzögert werden. Der Schaden für Marke und Vertrauen war immens.
Wer braucht schon goldene Wasserhähne
Der UX-Experte Ulf Schubert kritisiert: Das Pareto-Prinzip ebenso wie das „Minimum Viable Product“ (MVP) wird in der Softwareentwicklung oft als „Totschlagargument“ missbraucht – besonders wenn es um gestalterische oder nicht-funktionale Anforderungen geht, oder um dem spielerischen Drang von Entwicklerteams entgegenzuwirken. Das eigentliche Missverständnis liegt darin, dass „Fokussierung auf das Wesentliche“ fälschlicherweise als „Fokussierung auf das rein Funktionale“ verstanden wird.
Typisch ist die Denkweise in Unternehmen: „Es genügt, wenn das Produkt gut genug ist. Niemand will goldene Wasserhähne“. Schubert kontert diese Arroganz: „Der Anspruch an die Gestaltung, Funktionalität und Qualität eines Produktes ergibt sich aus den Erwartungen und Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden, nicht aus dem Effizienzanspruch des Unternehmens.“ Wenn die Kundenerwartung bei 92 Prozent liegt, hilft es nichts, aus Effizienzgründen nur 80 Prozent zu liefern. Das „ewige Provisorium“ entsteht genau dann, wenn Pareto-Prinzip und MVP (Minimum Viable Product) nicht als erste Iteration, als erster Durchlauf bzw. Versuch, sondern als Endzustand missverstanden werden.
Der Widerspruch im kreativen Bereich
Eine besondere Scheinheiligkeit zeigt sich im Umgang mit kreativen und innovativen Bereichen. Von Kreativen werden paradoxerweise oft 120 Prozent erwartet – die „Extrameile“ ist hier nicht Ausnahme, sondern Standard. Auch in der Start-up-Szene gilt „Effizienz“ als Fremdwort: 80-Stunden-Wochen werden glorifiziert, „Hustle Culture“ gefeiert.
Der Widerspruch ist offensichtlich: Während etablierte Unternehmensbereiche sich bequem bei 80 Prozent einrichten, wird von den „Innovationstreibern“ grenzenlose Hingabe erwartet. Kreativität und Innovation gelten als schwer messbar und damit als beliebig ausbeutbar. Der Mehraufwand soll unsichtbar bleiben – als wären geniale Ideen ein Nebenprodukt der Bürozeit.
Diese Doppelmoral entlarvt die wahre Natur der 80-Prozent-Mentalität: Sie ist kein Prinzip, sondern ein Instrument. Angewandt wird sie nur dort, wo sie Kosten spart – nie dort, wo sie unbequeme Grenzen ziehen würde.
Wenn 100 Prozent unverzichtbar sind
Manche Bereiche dulden keine 80-Prozent-Lösungen. Ich möchte keine Texte lesen, die nur zu 80 Prozent recherchiert sind. Ich will keine Software nutzen, deren Sicherheitsfunktionen nur „gut genug“ sind. In einer vernetzten Welt können die fehlenden 20 Prozent katastrophale Auswirkungen haben.
Die Fokussierung auf das vermeintlich Wesentliche übersieht oft, dass Innovation gerade in den vermeintlich unwichtigen 20 Prozent liegt. Hier schlummern die unentdeckten Potenziale, die Unternehmen von der Konkurrenz abheben.
Das Streben nach 100 Prozent wird heute oft als Perfektionismus abgetan. Doch dahinter verbirgt sich mehr als nur pedantische Genauigkeit – es ist der Anspruch, Dinge zu Ende zu denken und durchdachte Lösungen zu entwickeln.
Die Herausforderung liegt nicht darin, auf die letzten 20 Prozent zu verzichten, sondern intelligenter zu entscheiden, wo sie wirklich wichtig sind. Nicht alles braucht 100 Prozent – aber vieles mehr, als wir derzeit bereit sind zu geben.
Zeit für das volle Bier
Mein iPhone-Akku zeigt „100 Prozent geladen“ an, obwohl er nur noch 80 Prozent seiner ursprünglichen Kapazität hat. Dieses kleine Symbol steht für ein größeres Problem: Wir haben uns daran gewöhnt, dass „100 Prozent“ eigentlich weniger bedeutet.
Es ist Zeit, das Pareto-Prinzip wieder als das zu verstehen, was es sein sollte: ein strategisches Hilfsmittel, nicht eine Entschuldigung für mangelnde Sorgfalt. Denn manchmal verdienen wir alle zum Feierabend ein volles Bier – und nicht nur eines, das zu 80 Prozent gefüllt ist.